Hunger als Kriegswaffe

Hunger als Kriegswaffe: Im Gazastreifen droht durch die Blockade Israels eine dramatische Hungersnot. Deutschland muss sich dafür einsetzen, das Elend zu beenden. Beitrag zur katastrophalen Lage in Gaza vom 6. März 2024 in der IPG

Es war im Sommer 2023: „Beenden Sie die Art der Kriegsführung, Hunger als Waffe einzusetzen“, lautete ein eindringlicher Appell der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock. Er richtete sich damals an den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Im aktuellen Konflikt in Gaza hat man einen vergleichbaren Satz weder seitens der Außenministerin noch irgendeines anderen Mitglieds der Bundesregierung gehört, obwohl die Vereinten Nationen bereits seit Dezember letzten Jahres vor einer Hungersnot mit katastrophalen Folgen warnen. Diese Krise ist kein tragisches Naturphänomen, sondern menschengemacht und bewusst herbeigeführt.

Schon zu Beginn der vollständigen israelischen Blockade des Gazastreifens kurz nach den terroristischen Angriffen der Hamas am 7. Oktober kündigte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant an: „Es wird keinen Strom, kein Essen, keinen Treibstoff mehr geben … Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und werden uns entsprechend verhalten.“ Diese Abriegelung verschlechterte rasant die Lebensumstände der nun unter massiver Bombardierung stehenden Zivilbevölkerung. Die Hamas selbst war auf diese Situation vorbereitet und hatte entsprechende Vorkehrungen für sich getroffen. Obwohl der Charakter der kollektiven Bestrafung von Beginn an eindeutig war, hat die Bundesregierung diesen und weitere Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht bisher nicht eindeutig benannt.

2018 wurde der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe im UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 2417 geächtet. Diese verurteilte „entschieden das nach dem humanitären Völkerrecht verbotene Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegführung“. Ebenso verurteilt die Resolution die „rechtswidrige Verweigerung des humanitären Zugangs“ und die „vorsätzliche Behinderung von Hilfslieferungen“. Es gelte jene Strukturen zu schützen, die für die Lieferung humanitärer Hilfe sowie für die Nahrungsmittelproduktion notwendig sind.

Darüber hinaus fordert sie Staaten, die Einfluss auf die Parteien bewaffneter Konflikte haben, auf, diese an ihre Verpflichtung zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu erinnern und zur Aufklärung und Ahndung entsprechender Verstöße beizutragen. Schließlich wird festgestellt, dass der Sicherheitsrat auch Sanktionen erlassen kann gegen „Personen oder Einrichtungen (...), die die Bereitstellung humanitärer Hilfsgüter, den Zugang zu humanitärer Hilfe oder die Verteilung humanitärer Hilfsgüter behindern“. Derartige Maßnahmen wären natürlich nur im Falle einer Einigkeit möglich, die im Sicherheitsrat derzeit in der Regel nicht besteht.

Nach fast fünf Monaten Krieg steht Gaza vor einer menschengemachten Katastrophe.

Die Resolution enthält auch einen Verweis auf besonders verwundbare Gruppen: Flüchtlinge und Binnenvertriebene, ältere Menschen, Frauen und Kinder, also genau jene Gruppen, die derzeit in Gaza besonders von der Hungersnot betroffen sind. Auch die von Deutschland angestrebte feministische und „werteorientierte“ Außenpolitik wollte die Rechte dieser Gruppen im Rahmen eines menschlichen Sicherheitsansatzes ins Zentrum stellen. Nun droht sie angesichts der weitgehenden Handlungsunfähigkeit deutscher Politik endgültig unglaubwürdig zu werden

Nach fast fünf Monaten Krieg steht Gaza vor einer menschengemachten Katastrophe, vor deren Ausmaß internationale Menschenrechts- und Hilfsorganisationen bereits seit Wochen und Monaten warnen. Bereits im Dezember erklärte Human Rights Watch: „Die israelische Regierung nutzt das Aushungern von Zivilisten als Kriegswaffe, was ein Kriegsverbrechen darstellt.“ Schon in den Jahren vor dem 7. Oktober waren 80 Prozent der Menschen in Gaza auf humanitäre Hilfe angewiesen. Jetzt droht vielen der Hungertod.

Resolution 2417 sieht vor, dem Sicherheitsrat Bericht zu erstatten, wenn eine „konfliktbedingte Hungersnot“ droht. Das war am 27. Februar auch der Fall, als UN-Vertreter den Sicherheitsrat über die aktuelle Situation informierten: Die gesamte Bevölkerung sei derzeit für ihr Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen, die aber kaum zur Verfügung stehe. Bereits jetzt sei dies die größte Ernährungsunsicherheit, die jemals global bei einer Bevölkerungsgruppe dokumentiert wurde. 576 000 Menschen in Gaza – ein Viertel der Bevölkerung – sehen sich akuten Bedingungen einer Hungersnot ausgesetzt.

Eine Hungersnot ist nach Definition der Vereinten Nationen die schlimmste von fünf Stufen der Ernährungsunsicherheit: Mindestens in jedem fünften Haushalt fehlen Trinkwasser und Nahrungsmittel, es drohen Unterernährung und Hungertod. Die weitreichende Zerstörung ziviler Infrastruktur, der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen, die Behinderung und Gefährdung internationaler Hilfsorganisationen und nicht zuletzt der Versuch der Delegitimierung der für die Versorgung in Gaza zentralen UNRWA, nach Terrorismus-Vorwürfen gegen einige ihrer Mitarbeiter, tragen zu dieser Lage bei. Nur wenige Bäckereien können derzeit noch einen Bruchteil des Bedarfs in Gaza decken. Wie groß die Verzweiflung ist, wurde zuletzt bei einem Vorfall in der Nähe von Gaza-Stadt deutlich, als sich Hunderte Menschen trotz Beschuss der israelischen Armee auf einen Hilfskonvoi stürzten und zahlreiche Menschen getötet wurden.

In Gaza herrscht keine Hungersnot, die durch Wirbelstürme, Überschwemmungen oder Dürren ausgelöst wurde.

Als die Außenministerin im Dezember zur Weltklimakonferenz nach Dubai reiste, besuchte sie dort auch ein Warenlager des Welternährungsprogramms und äußerte sich zur Lage im Gazastreifen: „Wir sehen auf dramatische Art und Weise nicht nur das Leid, sondern der Hunger nährt auch weiteren Terrorismus“, sagte Baerbock. Das Sicherheitsargument, das sich wohl an die israelische Regierung richten sollte, wirkt angesichts der aktuellen Lage und der Bilder von unterernährten Kindern aus dem isolierten nördlichen Gazastreifen bizarr.

In Gaza herrscht keine Hungersnot, die durch Wirbelstürme, Überschwemmungen oder Dürren ausgelöst wurde. Nein, es ist das Ergebnis einer israelischen Politik der gezielten Abriegelung. Trotz der akuten Warnungen internationaler Hilfsorganisationen sank die Anzahl der Lastwagen, die Hilfe nach Gaza brachten, seit Februar drastisch. Das liegt unter anderem daran, dass die israelischen Besatzungsbehörden (COGAT) auch am ägyptischen Grenzübergang Rafah die Hilfskonvois kontrollieren und massiv verzögern mit der willkürlichen Einschränkung von Importen. Zudem werden die wenigen Hilfslieferungen über israelische Grenzübergänge immer wieder durch Aktionen rechtsradikaler Israelis aufgehalten und behindert.

Statt auf Grenzöffnungen zu drängen, wurden von den USA Abwürfe von Hilfslieferungen aus der Luft gestartet, obwohl diese nach einhelliger Meinung von Experten nicht effektiv sind und nicht ansatzweise ausreichen, um die hungernde Bevölkerung zu versorgen. Der ehemalige US-Diplomat Josh Paul beschreibt sie als „komplex, teuer und gefährliche Operationen“, die nur als letzte Möglichkeit angesehen werden könnten – so zum Beispiel als der serbische General Ratko Mladić humanitäre Hilfe für Sarajewo und Srebrenica verhindert habe. Doch hier handelt es sich nicht um einen der ärgsten Feinde der USA, sondern um einen der engsten Verbündeten: „Die Tatsache, dass er (gemeint ist US-Präsident Biden) es einfacher findet, dass US-Militär einzusetzen, als sich gegen Netanjahu zu stellen, zeigt die absolut feige Natur der Beziehung dieser Administration mit Israel“, so Josh Paul.

Nicht nur die USA, sondern auch Deutschland haben jedoch viele Möglichkeiten, mit entsprechendem Druck humanitäre Pausen und eine humanitäre Versorgung zu ermöglichen. Die beiden Länder sind die wichtigsten Handelspartner Israels und wichtige militärische Verbündete. Als solche müssten sie die Ursache dieser Krise benennen und auf die israelische Regierung einwirken, um auf ein sofortiges Ende der Blockade zu drängen. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn endlich ein Abkommen über eine humanitäre Pause oder einen umfassenderen Waffenstillstand gelänge.

Wird Israels Einsatz von Hunger als Kriegswaffe nicht beendet, werden die Opferzahlen weiter rasant steigen.

Der massive Import von Hilfsgütern und die Versorgung mit alltäglichen Gütern wird noch lange auf hohem Niveau notwendig sein, um die Folgen der monatelangen Abriegelung zu mildern. Vor allem müssen auch Treibstoff, Medikamente und medizinisches Gerät geliefert werden, um die Versorgung Zehntausender zum Teil schwer verletzter Menschen zu ermöglichen. Am besten wäre es, wenn diese Güter auch auf dem Seeweg transportiert werden könnten, der derzeit aufgrund der israelischen Blockade gesperrt ist. Bei den dafür notwendigen Sicherheitskontrollen könnte die EU eine wichtige Rolle spielen. Bleiben solche Bemühungen zur Beendigung der Blockade aus, werden jüngste Ankündigungen der Bundesregierung über eine Aufstockung humanitärer Hilfe ins Leere laufen.

Deutschland hat sich im von Südafrika initiierten Genozidverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen jegliche Vorwürfe verwehrt und sogar eine entsprechende Eingabe zur Verteidigung Israels vorgebracht. Dabei hat der IGH den israelischen Staat in einer vorläufigen Entscheidung im Januar unmissverständlich aufgefordert, „sofortige und effektive Maßnahmen zu ergreifen, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Unterstützung“ zu ermöglichen. Die Einhaltung dieser Entscheidung muss die Bundesregierung ebenso einfordern, wie die Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 2714.

Es sind bereits schockierende fünf Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens getötet oder zum Teil schwer verletzt worden, der Großteil davon Zivilistinnen und Zivilisten. Wird Israels Einsatz von Hunger als Kriegswaffe nicht beendet, werden die Opferzahlen weiter rasant steigen. Dies wäre nicht nur eine Katastrophe für Gaza, sondern auch für die Menschlichkeit. Und es wäre eine Schande für die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik, die es zukünftig schwer haben dürfte, in anderen Konflikten glaubhaft für den Schutz von Zivilisten und den Erhalt internationaler Normen einzutreten.